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Lehrstuhl für Geschichte an der LMU
Eine sehr gradlinige Karriere eines herausragenden Wissenschaftlers, die allzu früh, aber auch mit der Vollendung eines Jahrhundertwerkes endet[1].
Thomas Nipperdey, Kind eines Rechtsprofessors, wuchs in Köln auf. Noch in seiner Gymnasialzeit wurde er als Flakhelfer eingezogen, danach zum Arbeitsdienst, aber schon ein Jahr nach dem Krieg konnte er das Abitur bestehen und begann sofort mit dem Studium der Philosophie und der Geschichtswissenschaft an den Universitäten Köln, Göttingen und Cambridge. Nach der Promotion in Köln folgte bald ein Aufenthalt am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. Dort schloss er seine Arbeit „Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918“ ab, mit der er sich habilitierte und die noch im selben Jahr publiziert wurde.
Seinen ersten Ruf erhielt Nipperdey an die TH Karlsruhe, nach etwa 5 Jahren wechselte er an die FU Berlin, nach weiteren drei Jahren dann an die LMU, wo er bis zu seinem Tod lehrte. Forschungsaufenthalte führten ihn nach Princeton, nach Oxford und nach Stanford.
In Berlin veranlasste ihn seine liberalkonservative Haltung, an den Protestformen der Berliner Studierenden scharfe Kritik zu üben. Seine Parallelisierung der Methoden der Studierenden mit jenen der Nationalsozialisten vor 1933 trug ihm die Feindschaft der Studentenbewegung ein, was sich in Vorlesungsstörungen manifestierte und auch in einem Farbanschlag auf sein Auto.
Bei zwei der großen Debatten in Deutschland, dem Historikerstreit und der Diskussion um den Deutschen Sonderweg verhielt sich Nipperdey auffallend zurückhaltend:
Der Historikerstreit von 1986/87 war eine zeitgeschichtliche Debatte in der Bundesrepublik Deutschland um die Singularität des Holocaust und die Frage, welche Rolle dieser für das Geschichtsbild Deutschlands spielt.
Auslöser war ein Artikel Ernst Noltes, der den Holocaust als Reaktion der Nationalsozialisten auf vorausgegangene Massenverbrechen und das Gulag-System in der Sowjetunion darstellte. Diese und andere Aussagen von drei weiteren bundesdeutschen Historikern kritisierte der Philosoph Jürgen Habermas als „Revisionismus“, der ein deutsches Nationalbewusstsein durch das Abschütteln einer „entmoralisierten Vergangenheit“ erneuern solle. Darauf reagierten viele deutsche Historiker, Journalisten und andere interessierte Autoren mit Leserbriefen oder Zeitungsartikeln.
Nipperdey beteiligte sich nur mit einem Artikel, der den Stil der Debatte beklagte und Jürgen Habermas für seine moralisierende Stellungnahme den angegriffenen Kollegen gegenüber kritisierte. Zum inhaltlichen Kern äußerte er sich aber nicht, obwohl er Noltes strittigen Thesen ablehnte.
Deutlicher nahm Nipperdey zur These Deutscher Sonderweg Stellung: Anders als Frankreich und Großbritannien und natürlich auch Russland habe sich Deutschland, so besagt die These, kontinuierlich unter der Dominanz Preußens hin zum Kaiserreich und darüber hinaus über die Weimarer Republik hin zum Nationalsozialismus entwickelt. Die antiparlamentarische und antidemokratische Haltung weiter Kreise, auch die der Wirtschaft, habe zu einem vor allem über kulturelle Aspekte definierten, letztlich fehlerhaften Selbstverständnis und einem übersteigerten Nationalgefühl der Deutschen geführt. Ein strukturelles Modernisierungsdefizit habe letztlich in den Nationalsozialismus geführt. Verkürzt: Das Kaiserreich sei primär Vorgeschichte des Dritten Reiches.
Dieser damals nahezu unwidersprochenen These setzte Nipperdey Überlegungen entgegen, die relative Offenheit von historischen Situationen aufzeigten, die Alternativen, die Chancen und die Handlungsspielräumen orteten. So sollte die Weimarer Republik nicht nur von ihrem Ende her betrachtet und auf diese Weise von vornherein negativ gezeichnet werden. Bei all diesen Überlegungen ging es Nipperdey aber vor allem um eine Neubewertung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts.
Und das war nun einmal sein ganz großes Werk: Seit seinem Aufenthalt in Princeton arbeitete er an dem Manuskript, das dann bei C. H. Beck als „Deutsche Geschichte 1800–1866“ erschien. Seine anschließend (?) getroffene Entscheidung, das Werk bis 1918 fortzusetzen, hatte zur Folge, dass die nächsten zehn Jahre ganz der Arbeit an seinem Opus magnum gewidmet waren. Seine deutsche Geschichte hat den Anspruch, Totalgeschichte zu sein, das heißt alle Bereiche menschlichen Lebens und nicht nur die häufig im Vordergrund stehende politische Entwicklung zu beschreiben. So beschreibt Nipperdey, der zeitweise Mitglied der SPD war, sehr anschaulich den Pauperismus und schildert mit viel Mitgefühl die prekären Lebensumstände. Dennoch, aber vielleicht auch gerade deswegen, stellt er fest:
Die epochale Leistung des Jahrhunderts und das epochale Schicksal ist auch in Deutschland die industrielle Revolution, die technologische Revolutionierung der Produktionsverhältnisse, die kapitalistische Revolutionierung der Wirtschaftsweisen und -beziehungen, die Maschine, die Fabrik, der Markt, das Wachstum – und die daran sich knüpfenden sozialen, politischen und mentalen Folgen.
Das Manuskript des Gesamtwerkes wurde im November 1991 abgeschlossen und von Nipperdey mit einem auf den „3. Oktober 1991, dem Tag der deutschen Einheit“ datierten Nachwort versehen. Das Buch erschien im folgenden August. Ein Vorabexemplar hielt Thomas Nipperdey noch in der Hand, bevor er im Juni einer Krebserkrankung erlag. Das Leben des Autors war zu Ende, das Werk trat ins Leben und begann seine eigene Karriere als Meisterwerk und eine der großen Leistungen deutscher Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts.
[1] Das Foto von Thomas Nipperdey wurde uns von Dr. Claudius Stein, Universitätsarchiv München, zur Verfügung gestellt.