Die Ereignisse des Ersten Weltkrieges und die nachfolgenden Revolutionsunruhen haben auch der Familie Horváth zugesetzt. Vater Horváth kann aber in München an seine Diplomatenkarriere anknüpfen, Sohn Ödön wird nachgeholt und belegt in München an der Universität einen bunten Strauß von Fächern, von Psychologie, über Literatur und Soziologie bis hin zu den berühmten theaterwissenschaftlichen Übungen von Professor Artur Kutscher. Viel wurde belegt, aber das meiste hält Horváth für dummes Zeug, für ihn ist das Studium nur eine Zwischenlösung. Zu stimulierend ist das Fluidum der Stadt: So sah man auf der Ludwigstraße zwei kaum ergraute Herren spazieren gehen, nämlich die Brüder Mann in heftiger Diskussion über Literatur und Zivilisation; im Englischen Garten trat man ehrfurchtsvoll vor einem weißhaarigen Mann mit mächtigen Zügen und Baskenmütze beiseite, weil ältere Semester behaupteten, es sei Stefan George.
Dem Gründer der heute noch existierenden Buchhandlung Lehmkuhl gehörte ein Saal, in dem Dichterlesungen und Kabaretts stattfanden und Kammerkonzerte aufgeführt wurden. Lena Christ, Erich Mühsam, Johannes R. Becher, Klabund, Max Halbe, Hans Carossa, Ringelnatz, die beiden Brüder Mann trugen sich in das Gästebuch dieses Saales[1] ein. Auch das erste Werk Horváths wurde hier präsentiert. Ein um 30 Jahre älterer Komponist hatte ihn gefragt, ob er nicht für ihn eine Pantomime schreiben wolle. Horváth akzeptierte und das Werk kommt zur Aufführung. Der Abend verhieß nicht viel Erfolg, kostete dem Vater aber einiges Geld.
Unermüdlich schreibt Horváth weiter, ein großangelegtes historisches Drama entsteht, und – quasi als Ouvertüre zum gesamten Werk – ein Bühnenstück, in dem der Sohn einer bürgerlichen Familie auf die schiefe Bahn gerät. Noch ist viel Angelesenes nachempfunden, durchmengt von Gängigem dieser Jahre: So heißt es bei dem drei Jahre älteren Brecht[2] „Glotzt nicht so romantisch!“ und bei Horváth „Glotzt nicht so dämlich!“
Unermüdlich schreibt Horváth weiter. Seine Eltern sind anfangs irritiert durch seinen Entschluss Schriftsteller zu werde, aber sie legen ihm auch keine Hindernisse in den Weg. Als die Eltern sich in Murnau ein Landhaus errichten ließen, das ihnen neben der großzügigen Schwabinger Wohnung als Sommerresidenz diente, wurde dieses Haus für Ödön von Horváth während fast 10 Jahren zum Hauptwohnsitz. In Murnau fand er die Leute, die ihn für seine Kleinbürgerstudien interessierten. Aus allernächster Nähe konnte er menschliche Charakterzüge und Verhaltensweisen studieren, denn Murnau ist in diesen Jahren ein Stillhaltepunkt für verkrachte Existenzen, eine Sommerfrische für Leute, die aus nicht ganz durchsichtigen Gründen überwintern müssen. In dieser kleinen Welt bekamen Inflation, Arbeitslosigkeit und der aufkommende politische Radikalismus ein ganz anderes Gesicht als in München. In Biergärten und Ausflugslokalen saß Horváth oft stundenlang und machte sich Notizen. Die hingekritzelten Dialogfetzen, Konzepte und Skizzen bildeten später das Rohmaterial für seine Volksstücke und Prosaschriften.
Unermüdlich schreibt Horváth weiter und fasst allmählich auch Fuß in Berlin, dem kulturellen Zentrum des Deutschen Reiches. Aber er blieb dort nur jeweils so lange, wie es seine Arbeit unbedingt erforderte und übernachtete häufig in kleinen, billigen Pensionen. Dann kehrte er auf der Flucht vor Lärm, Betrieb und Großstadtrummel nach Murnau zurück und schrieb in ländlicher Ruhe seine Theaterstücke. Horváth wägt sorgfältig zwischen Stadt und Land ab: „in der Großstadt habe ich mehr Eindrücke, sehe ich mehr und wichtigeres für unsere Zeit als auf dem Lande“. In Berlin feiert er mehr und mehr Triumphe auf den Bühnen der Stadt, dort verlegt er seine Romane und Geschichten. Und die in Berlin gewonnenen Freunde besuchen ihn in Murnau. Mit ihrem großstädtischen Flair erregen sie Aufsehen, sogar Entsetzen, etwa wenn Gustav Gründgens sich auf den Schoß seines Freundes Francesco von Mendelson setzte.
Unermüdlich schreibt Horváth weiter, er wird immer erfolgreicher, seine Stücke kamen immer öfter auf die Bühne, seine Romane wurden verlegt und viel gelesen: Er traf den Nerv der Zeit. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten muss er auf deutschsprachige Bühnen im Ausland ausweichen, Prosa – schon immer Teil seines Schaffens – bekommt ein größeres Gewicht.
Doch dann ermüdet die Kreativität, starke Depressionen setzen ein, in Deutschland (und dann auch Österreich) ist Horváth Persona non grata, er muss reisen, in Paris verhandelt er ein Filmprojekt, er geht um nachzudenken über die Champs Elysées, es gewittert, ein Ast stürzt auf ihn, Horvath ist sofort tot.
Ödön von Horváth gehört heute zu den meistgespielten Dramatikern auf deutschsprachigen Bühnen. Stücke wie Italienische Nacht, Kasimir und Karoline und Glaube Liebe Hoffnung wurden bereits zu Lebzeiten des Autors als Erneuerung des Volksstücks gefeiert. In dem gleichen Jahr als Mann ist Mann von Bertold Brecht und Der Hauptmann von Köpenick von Carl Zuckmayer uraufgeführt wurden, kam Horváths größter Erfolg auf die Bühne, Die Geschichten aus dem Wiener Wald. Die fulminante Besetzung hatte Namen, die noch heute klingen: Carola Neher, Peter Lorre, Hans Moser, Paul Hörbiger und Paul Dahlke. Schließen wir dieses kleine Portrait mit dem wohl gewaltigsten Satz, den Horváth geschrieben hat: Du wirst meiner Liebe nicht entgehen.