Was für eine Jugend, und welch aufrechte Politikerin !
Eigentlich stand der sportlichen, immer etwas verschlossenen Tochter aus wohlhabendem Haus die Welt offen, der Vater ein angesehener Direktor, vier Geschwister, eine Villa in Berlin-Dahlem. Aber dann starben beide Elternteile, die Großmutter in Dresden, eine Jüdin, nahm die Gymnasiastin auf. Die junge Dame war eine talentierte Leistungsschwimmerin, so gut, dass sie als Mitglied des Nachwuchskaders zu den Olympischen Spielen in Berlin reisen durfte, sie sollte einmal Wettkampfluft schnuppern. Aber die Nürnberger Rassengesetze des NS-Staates begannen zu wirken. Als Halbjüdin wird sie erst aus dem Schwimmverein ausgeschlossen, dann muss sie die Schule verlassen, findet Zuflucht im Internat Salem, das sich aber schon bald von Nichtariern säubert. Wider jedes Erwarten schafft sie es, in Konstanz das Abitur zu machen. Mit einer Sondergenehmigung, für die der Nobelpreisträger Heinrich Wieland sorgt, studiert sie Chemie an der LMU in München.
Der Krieg hatte schon begonnen, und gerade an der LMU gab es Widerstand gegen die Gräueltaten der Wehrmacht, gegen das ganze Regime. Hildegard Brücher kannte die Professoren und die Studierenden der „Weißen Rose“[1], fühlte sich ihnen verbunden, wurde aber nicht aktiv.
Sie musste an den Starnberger See, teils weil das Institut in München ausgebombt war, teils aber auch weil es dort ihrem Doktorvater besser gelang, sie gegen Verfolgung durch die Gestapo zu schützen.
Die Befreiung durch die Alliierten kam für sie einem Berufsverbot gleich: Chemische Grundlagenforschung wurde verboten, Hildegard Brücher musste anderswo unterkommen, sie wurde Wissenschaftsjournalistin. Als sich ihr aber ein Stipendium in Harvard zum Studium der Politikwissenschaften bot, griff sie sofort zu und begann damit ihre Karriere als eine der bedeutendsten und aufrechtesten Politikerinnen der Bundesrepublik.
Hier nur die wichtigsten Stationen:
Hildegard Hamm-Brücher wurde in den Münchener Stadtrat auf die Liste der FDP gewählt [2]. Hier war es Theodor Heuss [3], mit seinen Ansichten und Warnungen zum Aufbau und zum Erhalt der Demokratie, der sie in die Politik brachte.
Sie wurde anschließend über mehrere Perioden Mitglied des Bayerischen Landtags. Vor ihrer letzten Wahl hatte man sie, die den Funktionären oft zu klug und zu aufrichtig und manchen ‚zu weit links‘ war, zur Strafe auf den hoffnungslosen Platz 17 der oberbayerischen Liste verbannt, doch durch in Bayern mögliche Vergabe von Stimmen an einzelne Kandidaten kam sie jedoch auf Platz 1 und zog, von den Medien stark beachtet, zum dritten Mal in den Landtag ein.
Hamm-Brücher wurde in den Bundesvorstand der FDP gewählt, in dem sie lange Jahre wirkte, einige Zeit sogar als stellvertretende Bundesvorsitzende.
Als erste Frau wurde sie als Staatssekretärin in das Kultusministerium des Landes Hessen berufen. Anschließend wechselte sie als Staatssekretärin in das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft.
14 Jahre lang war sie Mitglied des Deutschen Bundestages. Große Beachtung fand hier ihre Rede anlässlich des Misstrauensvotums gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt, in der sie sich mitten in der Legislaturperiode gegen eine Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler und stattdessen für komplette Neuwahlen aussprach.
Einmal war sie Kandidatin der FDP für das Amt des Bundespräsidenten, unterlag aber im dritten Wahlgang dem CDU-Kandidaten Roman Herzog [4] .
Immer wieder sprach sie ihr abweichendes Votum aus, riet ihrer FDP bei Gelegenheit zur Erneuerung durch Opposition und mahnte zur Rückkehr zu längst abgelegten liberalen Prinzipien.
Bis sie schließlich - nach 54 Jahren - ihre Mitgliedschaft in der FDP beendete. Sie begründete dies mit der „Annäherung der FDP an die antiisraelischen und einseitig propalästinensischen Positionen des Herrn Möllemann“.
Von den hessischen Grünen wurde Hildegard Hamm-Brücher als Wahlfrau für die 14. Und 15. Bundesversammlung nominiert. Beides Mal stimmte sie für den parteilosen Joachim Gauck.
"Freiheit ist mehr als ein Wort" – der Titel ihrer Autobiografie schwingt immer mit, wenn sich der Autor dieser Zeilen an die Präsenz von Hamm-Brücher in München erinnert. Oft besuchte sie die Munich History Lectures, eine von der Münchener Universitätsgesellschaft geförderte Reihe, in der die angesehensten Wissenschaftler in der LMU Gastvorträge hielten. Besonders blieb ihm jedoch die „Umarmung des Amerika Hauses“ in Erinnerung. Es war wohl das letzte Mal, dass diese große Politikerin sich in der Öffentlichkeit zeigte. Durch ihren Einsatz, durch die ganze Aktion blieb das Amerika Haus seiner ursprünglichen Bestimmung als kulturelles Bindeglied zwischen den beiden Kontinenten erhalten [5].